Tomasz Kurianowicz, seines Zeichens Literaturwissenschaftler, hat seine Hausaufgaben gemacht. Er weiss, dass man Artikel besser verkauft, wenn man negativ über ein Thema darin schreibt. Vor allem ein Thema, welches die ganze Menschheit bewegt - wie etwa die Liebe. Ich denke, sein Artikel über die Liebe im digitalen Zeitalter (oder besser: deren Erkalten im digitalen Zeitalter) ist bis zu einem gewissen Grad durchaus aus Kalkül so, wie er ist.
Für die Wenigen, die sich unter Liebe wenig vorstellen können, verrät Wikipedia, dass es sich um Folgendes handelt: Liebe ist im Allgemeinen die Bezeichnung für die stärkste Zuneigung und Wertschätzung, die ein Mensch einem anderen entgegenzubringen in der Lage ist. Der Erwiderung bedarf sie nicht. Nun gab es vor 200 Jahren Liebe, genau so wie vor 100 Jahren und auch heute. Herr Kurianowicz ist nun der Meinung, dass die Liebe durch moderne Kommunikationswege wie etwa E-Mail, WhatsApp, SMS, Chats etc. auf Distanz geht. Schlimmer noch - dass die Jugend von heute gar nicht mehr zu "echter" Liebe im Stande ist, weil sie durch die eben beschriebenen Tools automatisch auf Abstand bleibe. Reale Annäherung sei kaum mehr da, fast alles laufe digital ab, sogar das Ende einer "Beziehung". Sein Fazit: Er schreibt, es herrsche eine neue, kalte Liebesordnung vor.
Lieber Herr Kurianowicz. Haben Sie die Romane von Glattauer gelesen? Wenn nein, sollten Sie dies dringend nachholen. Sie zeigen exemplarisch eine Form der Annäherung zwischen zwei Menschen auf, wie sie inniger nicht verlaufen könnte. Und bevor jemand sagt, dass "es sowas ja nur im Roman gibt" - das stimmt nicht. So etwas geschieht in leicht veränderter Form wohl vielfach, jeden Tag. Menschen, die sich vielleicht in einem ersten Schritt im nichtvirtuellen Umfeld vor lauter Scheu nicht einmal in die Augen schauen würden, führen über das geschriebene Wort (ob nun auf der Kreidetafel, mit Liebesbriefen oder via E-Mail und Chat...) mehr oder weniger tiefgründige Konversationen, die dazu beitragen, dass sie sich besser kennenlernen. Mal kommt dies gut heraus, und man bleibt in Kontakt - wird zu Freunden, verliebt sich gar. Manchmal merkt man, dass man nicht wirklich auf derselben Wellenlänge ist, und der Kontakt verschwindet wieder.
Im Gegensatz zu "früher", wo man sich ausschliesslich im nichtvirtuellen Umfeld kennenlernte, haben die Leute heute unter Umständen einen Informationsvorsprung, wenn sie sich dann das erste Mal "wirklich" treffen. Was bitte ist so schlecht daran?
Als Medienwissenschaftlerin kann ich sagen, dass jede Art der Kommunikation (live und verbal, nonverbal, digital) gewisse Risiken birgt. Und mit Sicherheit ist es keine gute Sache, wenn jemand sämtliche Sozialkontakte oder Beziehungen durch virtuelle Formen ersetzt. Die grosse Menge der Menschen da draussen setzt die Möglichkeiten von heute jedoch eher ergänzend ein, und bereichert damit im Idealfall sein Leben. Ein solches medienvernünftiges Verhalten jedoch fällt einem nicht in den Schoss, weshalb es in Zukunft nur noch wichtiger sein wird, mit den Heranwachsenden über dieses Verhalten zu sprechen. Schaut man aber genauer hin, geht es dabei um genau die gleichen Themen, wie sie die Jugend von heute (und warum nicht auch ältere Generationen) aber auch jene vor 200 oder 100 Jahren beschäftigten. Es geht darum, dass wir alle nach Freundschaft und Liebe streben. Dieses Bedürfnis ist nicht an digitale Medien gebunden. Aber manchmal helfen sie uns dabei: bei der Suche (Freunde/ Partner finden) und dem Aufrechterhalten (Kontakt pflegen) dieser Beziehungsformen.
Sie schreiben, dass die heutige Jugend sich am Bildschirm verliebe. Na und? Früher hat man sich durch das Fenster zum Schulhof verliebt. In den Star im Fernsehen (da hätten wir den Bildschirm). Im Verein, oder in den besten Freund des älteren Bruders. Verliebtheit geschieht über eine gewisse Sympathie und Anziehung. Und wenn jemand dies durch das geschriebene Wort hinbekommt, sehe ich nichts Schlechtes daran. Sie prangern an, dass der "menschliche Kontakt" nicht mehr zuerst komme, sondern Informationen erst über elektronische Medien ausgetauscht würden, bevor man sich näher kommt. Erinnern Sie sich denn nicht mehr an früher? Als man sich verstohlen kleine Liebeszettelchen auf dem Pausenhof zugesteckt hat? Oder wie war das bei Ihnen - ist man da direkt übereinander hergefallen? Waren die Jugendlichen (und Erwachsenen ebenso) früher einfach so viel mutiger als heute, ohne Angst vor Zurückweisung, dass sie sich sofort ihrem Schwarm angenähert haben? Wohl kaum.
Ich erinnere mich, dass da ziemlich viel Distanz und Kommunikation via Freunde stattfand, bevor man einem Schwarm dann tatsächlich im Gespräch oder körperlich näher kam. Wenn überhaupt. In den meisten Fällen blieb und bleibt es noch heute bei einer stillen Schwärmerei, von der der oder die Angehimmelte nie etwas mitbekommt. Aber vielleicht war das bei Ihnen ja anders.
Wenn Sie nun über eine Jugend sprechen, die scheinbar nur noch via Whatsapp miteinander kommuniziert, einander erotische Fotos schickt und via SMS Schluss macht, so tun Sie den allermeisten unrecht. Denn verzeihen Sie - aber die meisten Jugendlichen und Erwachsenen, die ich kenne, nutzen diese Möglichkeiten als Zusatz. Sie küssen sich trotzdem offline. Sie berühren sich offline. Sie streiten sich offline. Und ja sie trennen sich auch noch offline. Digitale Liebe muss überhaupt keine kalte Liebe sein. Die Liebe in Zeiten der neuen Medien muss noch immer erprobt, erfahren, manchmal erlitten und schliesslich erfühlt werden. Da führt gar kein Weg daran vorbei. Die Annäherung geschieht nur ein wenig anders, als es früher der Fall war.
Dabei ist die digitale Form der Nähe sicher keine "bessere" Form, aber eine Andere. Genau wie im "richtigen" Leben bleiben auch virtuell Gefühle unerwidert, unerwähnt und unausgesprochen. Aber jeder Mediennutzer da draussen kann mit ein wenig Medienkompetenz und gesundem Menschenverstand für sich entscheiden, wie viel Virtualität ihm und der Liebe gut tut. Und wie er sich selbst bei der Kommunikation über die Tasten des Laptops oder Smartphones gefühlsmässig schützen kann, und auch anderen möglichst wenig weh tut.
Also verzeihen Sie bitte, wenn ich Ihre Meinung nicht teile. Die so genannten "Digital Natives" von heute ticken was die Liebe betrifft nicht wirklich anders, als die vielen Generationen zuvor. Sie nutzen nur die Möglichkeiten, die ihnen heute zur Verfügung stehen. Die Jugend deshalb in einen Topf zu werfen und ihnen kalte Liebe zu unterstellen bringt nun wirklich niemandem etwas.
Sie jedoch auf ihrem Weg zu medienkompetenten, zufriedenen und beziehungsfähigen Menschen Schritt für Schritt zu unterstützen, hingegen schon.